April 2022

Balance und Sicherheit   

Fast kein Kind lässt sich auf dem Waldspaziergang die Gelegenheit entgehen, über den Baumstamm am Wegrand zu gehen. Seine strahlenden Augen, die ausgebreiteten Arme und ein glückliches «Juhuuu!» sind die Zeichen für die grosse Freude, den Boden unter sich gelassen zu haben, grösser zu sein als die Erwachsenen … vielleicht ist das der Beginn des Traums vom Fliegen!

Vielleicht am Beginn noch an der helfenden Hand der Mutter, was dem Vergnügen keinen Abbruch tut.

Erinnern wir uns zurück, wann wir das zum letzten Mal gemacht haben … es ist vielleicht lange Zeit her. Zaubert aber bereits die Erinnerung ein glückliches Lächeln auf dein Gesicht? Eben!

Was gibt einem Kind die Sicherheit, sich auf das Risiko über den weniger sicheren Untergrund zu gehen und dabei stabil zu sein? Was gibt ihm die Lust dazu, dies auszuprobieren?

Die Gedanken im Interview mit dem Schriftsteller und Filmemacher Alexander Kluge in der Sonntagszeitungbeilage Magazin Nr. 11 vom 19. März 2022 lassen diese Frage etwas klarer erscheinen.
Er sagt da sinngemäss, dass wenn ein Artist auf dem Hochseil sehr weit oben in der Zirkuskuppel turnt, er den Boden der Manege, auf den er abstürzen könnte sehr genau erkunden muss. Und er muss genau wissen, was die Menschen unter ihm im Zirkuszelt tun. Es geht beim Hochseilakt also um Bodenhaftung.

Was macht ein Kind bevor es den Boden beim Balancieren über den Baumstamm verlässt?
Es erforscht seine Umgebung im wahrsten Sinn des Wortes «gründlich» mit seinem ganzen Körper bevor es aufsteht und die kleinere Standfläche der Füsse nutzt.
Danach auf zwei Beinen beginnt die Verfeinerung der Balance mit der Koordination der Bewegungen. Aufstehen und Hinfallen gehören dazu. Man weiss ja, wohin man fällt, nur auf den bekannten Untergrund!

Und bald ist es Zeit, den Boden noch etwas mehr zu verlassen, im Wald über den Baumstamm zu gehen oder über jedes schmale Mäuerchen zu laufen, auf den nächsten Baum zu klettern … und … und … und. Der Boden ist dafür bereitet, einen jederzeit mehr oder weniger schmerzfrei aufzufangen.

Die Sehnsucht des Menschen, Boden unter den Füssen zu spüren und ihn auch im übertragenen Sinn zu haben ist zentral.

Der dänische Philosoph, Theologe und Schriftsteller (1813–1855), Søren Kierkegaard sagt folgendes:
«Ich habe mir meine besten Gedanken ergangen und kenne keinen Kummer, den man nicht weggehen kann.»

 

Beim Gehen geht unser Gewicht abwechslungsweise von einem Fuss zum anderen; wir balancieren hin und her und beleben so spielend Körper, Gehirn und Geist.

Am Beginn einer Feldenkrais-Stunde legen wir uns dankbar auf den Boden, übergeben uns dem sicheren Gefühl des Bodenkontakts und überlassen uns dem was die Stunde bringen wird.
Wir gehen zurück zum tief verwurzelten Vertrauen in uns, Sicherheit zu finden.
Am Boden loten wir unsere Grenzen aus und lernen, wie wir uns in der momentanen Situation bewegen möchten oder bewegen können.

Gelenk um Gelenk wird freier, durchlässiger, Räume werden zugänglicher – im Zusammenspiel der Kräfte erfahren wir das Gefühl balanciert zu sein, aus der eigenen Mitte heraus handeln zu können; es vermittelt das Gefühl von Freiheit.

Wie oft stehen wir danach auf und stellen fest: «Jetzt habe ich wieder Boden unter den Füssen» oder «Ich bin besser aufgerichtet, bin sicherer auf meinen Füssen und gehe mit leichten Schritten».

Solange ich bei meinen Gewohnheiten bleibe und keine Wahl habe, habe ich keine Entscheidungsfreiheit, bin aus der Balance, und es ist um meine Sicherheit geschehen.

Nehmen wir also das Angebot an und gehen zurück auf den Boden … hie und da … immer wieder … und jeden Tag einen Moment …